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Die Erfindung der Raserei

Nach mehreren Fahrten auf Bundesstraßen in Kärnten, der Steiermark und Oberösterreichs betrete ich die „Arena des weißen Mannes“ – aber nicht duckmäuserisch, nein, selbstbewusst! Ich bin gekommen, um zu bleiben und ihnen die Stirn bieten. Ihr werdet mich kennenlernen! Da könnt ihr toben, in euren mobilen Echokammern wie ihr wollt – für mich ist das mein „Ballhausschwur“ – ein Kampf, den ich führen werde, bis ihr bessere Radwege parallel zu den Straßen gebaut habt, davor werde ich nicht weichen! Überall wo man fahren kann, werde ich fahren!! Im Rucksack die Medaille – 178 Gramm schwer - „Freiheit oder Tod - 1793“! Man hätte mich schon lange überfahren – hätte ich den schweren Schlüsselanhänger nicht immer dabei, davon bin ich überzeugt! Auch der Agnostiker braucht seinen Glauben!

 

Ich stehe an der Bundesstraße 3 hinter Krems– eine Art letztes Refugium überkommener Männlichkeit - die wahrscheinlich gefährlichste Straße Österreichs, ein Paradies für Raser und Wahnsinnige – idyllisch direkt an der Donau. Auf vielen Abschnitten herrscht ein Fahrverbot für Radfahrer. Dort sollte man nicht (auch nicht aus Versehen) hinauf geraten. Ich will nur über die Straße zum Radweg. Und dann - ein Wumms - ein schwarzer Q7 Coupe rast vorbei! Ich zu Tode erschrocken - das waren 130 km/h mindestens! Das wahrscheinlich sinnloseste und präpotenteste Auto, das je gefertigt wurde. Göring hätte so eine Mühle gefahren, bestimmt! Vielleicht noch der Gestapo Chef Müller, aber den kennt sowieso keiner mehr! Ich muss weg von der Straße, sonst hole ich mir einen Pflasterstein und radikalisiere mich auf der Stelle!

 

Nach gut fünf Kilometer habe ich eine exzellente Position erblickt. Zwischen Donau und B3 auf einem steilen, schmalen Hügel, direkt in einer Kurve, alles einsehbar. Ich setzte mich dort neben einem großen Stein ins Gras und will das Treiben der Narren beobachten, obwohl der Blick auf die Donau und die Schiffe zur Ablenkung einladen. Ich möchte in ihre Gesichter sehen und ein letztes Mal verstehen lernen, was sie antreibt. 3 Bier habe ich mitgebracht, von 3 Brauereien ohne flämische Beteiligung, gar nicht einfach, dass in einem Laden zu bekommen. Ich will sie nüchtern und im „Halbdampf“ erleben, die Bleifüße. Schon sehe ich das erste Überholmanöver! Wie aus der Stummfilmzeit, richtig tollkühn, als hätte Buster Keaton Regie geführt und ebenso gefährlich wie damals.

 

Ich öffne ein Stiegl und nehme einen richtig großen Schluck und dann in kürzerem Abstand weitere kleinere – das Bier erreicht schnell seine Wirkung und ich lege mich hin und schaue in den Himmel hinauf, während unter mir die „Gaser“ vorbei rasen. Ein Ort zwischen Himmel und Hölle, sozusagen und ich stelle mir die Frage: „Wo liegen eigentlich die Wurzeln des Rasens und wer waren die theoretischen Schöpfer? Wer schaffte das Recht, oder näher an der Realität, wer tat nichts dagegen?“ Plötzlich fallen mir die Augen zu und ich erinnere mich an die Kunstwerke der Futuristen. Einige Bilder habe ich selbst gesehen in Ausstellungen in Berlin und Köln. Was für Meisterwerke eines Gino Severini, eines Carlo Carrà und für mich der genialste - Umberto Bocconi, die künstlerische-virtuoseste Herausarbeitung von Bewegung im Raum!  Ihr Credo – die Verherrlichung der Geschwindigkeit, gemalt in unbeschreiblichen Farben und Formen, einfach meisterhaft! „La strada entra nella casa“ übersetzt - die Straße dringt in das Haus - was für eine Metapher - übertragen auf den Lärm der heute von der Straße in die Häuser dringt! Aber das war damals avantgardistisch durch und durch, damals in der eingeschlafenen Welt vor dem Ersten Weltkrieg. Aber die Theorien Marinettis? Das war vor dem Weltenbrand schon mehr als umstritten. Und wieder ein Narr mit aufheulendem Motor und unglaublicher Geschwindigkeit rast vorbei. Ob der Marinettis Schriften gelesen und Bocconi Bilder gesehen hat? – wahrscheinlich nicht. Und ich springe auf, fuchtle und fluche, schreie im Wissen, dass er mich weder sieht noch hört!

 

Vereinfacht gesagt, Filippo Tommaso Marinetti schuf mit dem „Futuristischen Manifest“ 1909 die theoretische Grundlage für die Raserei, und Adolf Hitler 30 Jahre später, mit der Reichsgaragenverordnung die rechtliche Basis, dass dem Rasenden keine Hindernisse mehr im Wege stehen! Die Achse Berlin-Rom wurde zementiert und das Bündnis Raserei und Faschismus wurde rechtlich abgesichert! Alles hat Marinetti damals in das Machwerk hineingepackt - die Frauenfeindlichkeit, die Dominanz des Mannes, die Huldigung des Krieges, den anarchistischen Gedanken und damit das Recht des Stärkeren und genau das sehe ich dort unten gerade, als ich das Ottakringer Bier öffne: Rücksichtslos überholt einer im Holzfällerauto einen Kleinwagen. Im Fiat sitzt eine Frau - und im „Führerhaus“, welch Aphorismus - des überdimensionierten Pickup, ein mittlerer Jahrgang. Ein klassischer Raser. Und schon habe ich die Unkenrufe im Ohr: „Aber es gibt auch Raserinnen!“ „Noch dominieren in unseren Wäldern die Holzfäller und nicht die Holzfällerinnen“, würde wohl der örtliche Förster entgegenhalten, während der Mann mit diesem lauten Benzin-gurgelndem Geräusch, oder wie es in motorbezogenen Fachzeitschriften heißt - in sonorem Grummeln - vorbei donnert.

 

Lange nach 1945 wurde es auf vielen Gebieten sozialer und gerechter. Unsinn verschwand langsam aus den Schulbüchern. Nur auf der Straße wurde es lauter, autoritärer und darwinistischer. Straßenplaner der 1950er Jahre haben die Tradition des Rasens weiterentwickelt und gefördert! Aus dem Rassenwahn wurde der Raserwahn. Erst spät regten sich die ersten Stimmen dagegen. Keiner hat den Zusammenhang von Faschismus und Raserei pointierter beschreiben als Fritz Teufel, der Alt-Achtundsechziger aus der Kommune I und der musste es wissen als Radkurier in Berlin: „Wenn es ein paar Raser weniger gibt, gibt es ein paar Faschisten weniger!“ Er wünschte ihnen nicht den Tod, er wünschte ihnen Läuterung. Was für ein pointierte Beschreibung, die jeder wissenschaftlichen Untersuchung standhält. Die Schweizer Autopartei sei erwähnt.

 

Nach dem 2. Bier schlafe ich ein und träume von fahrradfreundlicher Infrastruktur. Aber irgendwann erwache ich wegen Motorengeheul. Die Sonne steht schon tief im Westen. Schnell nehme ich das Fernglas. Der fossile Mann der Alpenrepublik jagt dem Sonnenuntergang entgegen. Ein Dodge RAM der 4. Generation mit einem 5,7 Liter Motor kommt auf mich zu, gefolgt und immer wieder zum Überholen ansetzend, von einem schwarzer SUV, ein riesiges Stelzenauto mit Flachdach. Was für ein Bild! Jetzt sind die beiden auf gleicher Höhe – unglaublich – und beide tragen archaische Bärte - und ich sehe rechts den roten Halbmond auf einem kleinen Wimpel und auf einem großen Kissen auf der Rückbank. Was für eine Allegorie: Das ländliche und das urbane Symbol des fossilen Unfugs Rittern um die Vorherrschaft auf dem Asphalt der Wachau-AVUS. Ein Kampf wie einst 1683 am Kahlenberg. Damals einst legte man getrockneten Erbsen auf Trommeln, um den Türken zu hören, heute ist der Krawall allgegenwärtig in den Städten und am Lande und man braucht Ohropax, so ändern sich die Zeiten. Und schon jagen sie vorbei, die fossilen Marlboro-Männer von Abend- und Morgenland im Widerschein der untergehenden Sonne – was für ein Abgesang der archaischen Männerwelt! Ich öffne das Murauer Bier und glaube alles verstanden zu haben.

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