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"Jorge"

Erinnerung an acht Monate in Tirol

Von Seefeld bin ich gekommen und dann auf die Bundesstraße 171 eingebogen und plötzlich, nach ein paar Kilometer, stehe ich vor der Einfahrt hinauf zur Standschützenkaserne in Innsbruck-Kranebitten. Nach kurzer Überlegung, weil es doch irgendwie überraschend ist, fahre hinauf. Dort habe ich meinen 7-monatigen Wachdienst (nach verkürzten Grundausbildung) beim Bundesheer abgeleistet. Damals haben wir Ende April 1986 die Kaserne neu bezogen. Es war eine Referenzkaserne für zukünftige Kasernen in Österreich. Alles sieht noch gleich aus und ich erinnere mich zurück an unseren Dienstführenden, der uns in den letzten 3 Monaten, nachdem der gütige Vizeleutnant Rossmann schwer erkrankt war und noch während unserer Dienstzeit verstarb, zugeteilt wurde!

 

Wir wollten ihn nicht tot sehen - wir wollten ihn verunfallt sehen, unverletzt. Aber sein Auto qualmend und verbeult schräg auf der Kasernenstiege und er heulend im Schockzustand, ungläubig vor seiner Schrottkarre kniend und jammernd wie ein Kleinkind - das wollten wir sehen! Am besten in den Morgenstunden, wenn das Gegenlicht auf die Treppe der Standschützenkaserne schien und sie höher, mächtiger und plastischer erscheinen liess! Auf ihr das rauchende Ungetüm, hinaufgetragen von der Unvernunft eines überforderten Unteroffiziers im Range eines dienstführenden Vizeleutnants! Seine hagere Figur mitten im Nebel des austretenden Kühlerdampfes, gekrümmt durch den materiellen und ideellen Verlustes des Vehikels, eines unbelehrbaren Autonarren. Egal, ob er sein schwarzes oder sein vanillecremiges „Schmuckstück“, beide in die Jahre gekommenen Mercedesstücke, in die Binsen steuerte. „In die Mauer mit dir und deiner Karre“, war der Schrei des Wachsoldaten, übertönt vom lauten Quitschen der Reifen und dem hochtourigen Motorengeheul, als Jorge wieder mit geballter, kinetischer Energie an den Wachsoldaten vorbei schrammte! Und wir, die Leute von der Wache, bereiteten ihm hinterhältig und kaltblütig den Nährboden für sein Treiben. Wenn wir ihn in der Haarnadelkurve, unterhalb der Kaserne hörten, öffneten wir schnell den Kasernenschranken, damit er ungehindert einfahren konnte. Freundlich das Gesicht, aber angespannt und mit diebischer Erwartung, hofften wir auf das Naheliegende. Und er nahm das gerne an, denn immer wilder wurden seine Auftritte, wie er in die Kaserne schleuderte. Neidlos musste man anerkennen, es waren Auftritte von absolutem Showcharakter, tollkühn vorgetragen und äusserst präzise in seiner Performers. Aber für uns fehlte der Unfall, das absolute Spektakel, die Explosion - das Inferno! “Wieder nichts“, war dann an den abwinkenden Bewegungen des jeweiligen Wachsoldaten erkennbar!  Wir wären alle da gewesen in Sekunden - heraus gerannt aus Stabskaserne, Werkstatt und Wachzimmer - schneller wie bei einem Alarm. Wir hätten gelacht, wir hätten geschrieen, wir hätten getobt, wir hätten getanzt und gejodelt vor Freude. Es wäre der Ausnahmezustand gewesen, den kein Dienstführender, Oberst und kein General in den ersten Minuten unter Kontrolle gebracht hätte! Niemand hätte sie gehört im Taumel der Schadenfreude. Selbst die Köche hätten das Essen stehen gelassen - wäre ihnen die Nachricht ereilt, Jorge ist in die Stiege geknallt! Er hatte die Situation herausgefordert durch seinen Fahrstil, aber mehr noch durch sein ungustlhaftes Wesen, alle in die Pfanne zu hauen. Die Knechtschaft war sein Ding. Die Rache und die unverhältnismässige Vergeltung. Jorge war der Typ Militär, der nur das Militär kannte! Selbst an Wochenende besuchte er alleine oder in Begleitung die Standschützen-kaserne. Fahnen und Choräle, Fackeln und Uniformen, Vorschriften und Verordnungen, Kommandos und Untertanengeist, das war Jorges Welt! Wäre er früher zur Welt gekommen, er hätte sich 1918 den Freicorps angeschlossen, weil seine philiströs-armselige Welt zusammen-gebrochen war, davon waren wir, einfache, aber geschichtsinteressierte Wehrmänner tief überzeugt!

Und wir waren auch tief überzeugt, dass er irgendwann verunfallen musste, weil es die Statistik so wollte, in letzter Konsequenz auch mit Nachhilfe! Wir waren im Glauben, dass der Schrei des Wachsoldaten genau dieses kleinste Quäntchen Energie erzeugt, welches Jorge am Ende auf die Stiege treibt! Wie ausgerechnet Neutrinos, diese Elementarteilchen mit der geringsten Wechselwirkung, die größte Explosionen überhaupt - die Supernova - am Ende auslöst, gab uns ein anderer Vizeleutnant, der dienstführend das absurde Spektakel kopfschüttelnd mitverfolgte, auf den Weg! Aber Jorge verunfallte nicht! Er war ein Virtuose in diesem Dreiklang von geöffneter Schranke, Fahrzeugbeherrschung und enger Verkehrsführung, die bautechnisch eigentlich dieses Rabaukentum unterbinden hätte sollen. Das kurze, rituelle Schauspiel war eine Art planckzeitliches-Kammerspiel: blitzschnell und räumlich ins Atomare verdichtet, das uns dieser Schnauzbart, der in Aussehen und Charakter so sehr an den ehemaligen argentinischen Juntaführer Jorge Fidela erinnerte, virtuos vorführte.  Für den Erstbeobachter ein Narrenstück, erwuchs es für uns, neben der erhofften Katastrophe, auch zu einem Stück der Bewunderung über diesen Autonarren. Und weil mit jedem Mal die Chance schwand, ihn und seine Karre endlich schräg auf der Stiege zu sehen  - überwog am Ende fast die Faszination, wie jemand diese alten Schrottschüsseln so meisterhaft beherrschen konnte. Da offenbarte er uns seinen ganzen irrationalen Leistungsgedanken, den er seit Jahrzehnten wie eine Monstranz vor sich hertrug: Immer zu den Schnellsten und Besten zu gehören! Und heute alle seine Untergebenen zu dieser Schnelligkeit antreiben zu wollen - sei es nur das „Häusl“ in kürzester Zeit von den Fäkalien zu befreien. Dieser Gedanken, den er immer und immer wieder propagierte und der uns so sinnlos erschien. Aber wäre es dann doch noch passiert - der Crash - wir wären alle da gewesen, mitleidlos, mittendrin im Taumel des Mobs.

 

Jorge hätte ein ganz Großer werden können, wenn die Kasernenplaner der 1980er Jahren ihre vollmundige und großspurige Vision in den folgenden Jahren umgesetzt hätten, alle Kasernen in Zukunft baugleich zu errichten, damit sich jeder Militär überall und auf der Stelle auskennt. Was wäre das gewesen: Jorge auf Aussendienst in Villach. Aber vielleicht wäre er genau dort gescheitert! Gescheitert an den klimatischen Unterschieden: Nicht Innsbrucker Föhnsituation - sondern herbstlich-carinthische Feuchte, mit genau einem Ahornblatt zu viel auf der Fahrbahn. Eines, das er zwar sah und in seine Fahrkünste einplante, aber so „unglücklich“ und deckungsgleich-tükisch auf einem anderen Blatte lag. 

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